„Abweichungen vom medizinischen Standard erfordern gesonderte Aufklärung“ BGH
Dem Bundesgerichtshof lag die Revision einer Patientin vor, die in erster und zweiter Instanz erfolglos auf Schadenersatz und Schmerzensgeld wegen eines Behandlungsfehlers geklagt hatte.
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Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte im Zeitraum von fünf Jahren zwei Verkehrsunfälle erlitten und wurde seitdem regelmäßig von Schmerzen im Bereich der Nacken- und Schulterpartie mit Kribbelparästhesien geplagt. Im Jahr 2012 diagnostizierte ein Orthopäde einen Bandscheibenvorfall des Halswirbelsäulensegments C5/C6. Diese Diagnose wurde durch einen zweiten Orthopäden abgesichert, der eine Operation am Segment C5/C6 empfahl. Dieser Meinung schloss sich auch der hinzugezogene Neurologe an.
Daraufhin suchte die Patientin einen bei der Beklagten beschäftigten Neurochirurgen auf. Der Neurochirurg diagnostizierte neben dem Bandscheibenvorfall auch einen bislang symptomlosen Bandscheibenschaden am benachbarten Segment C4/C5 und entschloss sich dazu, in einer Operation die beiden Segmente durch eine Plattenverschraubung zu verbinden. Die Klägerin litt auch nach der im Januar 2004 durchgeführten Operation unter erheblichen Schmerzen, 2007 brachen außerdem drei Schrauben in den Halswirbeln ab, und eine Lockerung des Gefüges machte eine weitere Operation erforderlich.
Therapie nach Mindermeinung war kein Behandlungsfehler
Der sechste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs kam nach der Anhörung medizinischer Sachverständiger zu dem Schluss, dass die Einbeziehung des benachbarten Segments von einer Mindermeinung in der Ärzteschaft empfohlen wird. Der Therapieansatz bezieht bereits den Umstand ein, dass durch die Schwächung des betroffenen Segments das Nachbarsegment stärker beansprucht und daher früher oder später auch geschädigt wird.
Die medizinische Mehrheitsmeinung lehnt es jedoch ab, operative Eingriffe auf bislang symptomlose Segmente auszuweiten. Die durchgeführte Behandlung entsprach nach Ansicht des Senats daher nicht dem fachlichen Standard, sei aber auch nicht zwingend als fehlerhaft einzustufen, da immerhin einige Ärzte von den Vorteilen der präventiven Mitbehandlung überzeugt seien.
Standardabweichung erhöht Anforderung an Aufklärung
Wenn aber ein Arzt von der gängigen Behandlungsweise abweiche und eine individuelle Therapie anbiete, müssten gesteigerte Anforderungen an die Aufklärung der Patienten gelten, so der Senat. Insbesondere habe der behandelnde Arzt seine Patienten dann ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sein Vorgehen nicht mit der Mehrheitsmeinung seiner Kollegenschaft in Einklang steht. Anderenfalls könne ein Behandlungsfehler darin liegen, dass der Patient nicht hinreichend aufgeklärt wurde. Im vorliegenden Fall hatte der Arzt die Patientin unstreitig auf die gesundheitlichen Risiken der Behandlung hingewiesen. Außerdem hatte er ihr erklärt, die Einbeziehung des Nachbarsegments sei eine Präventivmaßnahme zur Vermeidung von weiteren Schäden.
Er hatte ihr aber nicht gesagt, dass sein individueller Therapieansatz von der Mehrheit seiner Kollegen nicht befürwortet wird. Der Senat stellte daher im Ergebnis fest, dass der Arzt die Patientin nicht hinreichend aufgeklärt hatte. Das Berufungsurteil wurde aufgehoben und der Rechtsstreit an das OLG Karlsruhe zurückverwiesen (BGH, Urteil vom 15.10.2019 zu Az.: VI ZR 105/18 ).